Bratislava-Prag, 17. Juni 2010
Am 12. Juni fanden in der Slowakei Parlamentswahlen statt. Wie auch zuvor in Ungarn und Tschechien zogen zwei neue Parteien ins Parlament ein. Trotz der Tatsache, dass Smer-SD (Richtung Sozialdemokratie) des populistischen Premiers Robert Fico 12 Mandate dazugewann, wird es wahrscheinlich zu einem Machtwechsel kommen. Die Koalitionspartner der Smer-SD, die Partei des ehemaligen Premiers Vladimír Mečiar ĽS-HZDS (Volkspartei-Bewegung für eine Demokratische Slowakei) und die rechtsextreme SNS (Slowakische Nationalpartei), verloren insgesamt 26 Sitze. Die ĽS-HZDS scheiterte an der Fünfprozenthürde, die SNS verlor fast 7 Prozent der Stimmen. Ein neues Regierungsbündnis vier konservativer und liberaler Parteien hätte 79 der 150 Mandate inne. Zweitstärkste Kraft wurde die SDKÚ-DS (Slowakische Demokratische und Christliche Union-Demokratische Partei). Auch wenn die SDKÚ-DS fast 20 Prozentpunkte hinter der Smer-SD liegt, wird die Parteivorsitzende Iveta Radičova wahrscheinlich neue Ministerpräsidentin.
Partei |
2006 Prozent (Mandate) |
2010 Prozent (Mandate) |
Gewinn/Verlust |
Smer-SD | 29,14 (50) | 34,79 (62) | +5,65 (+12) |
SDKÚ-DS | 18,35 (31) | 15,42 (28) | -2,93 (-3) |
SaS | - | 12,14 (22) | +12,14 (+22) |
KDH | 8,31 (14) | 8,52 (15) | +0,21 (+1) |
Most-HÍD | - | 8,12 (14) | +8,12 (+14) |
SNS | 11,73 (20) | 5,07 (9) | -6,66 (-11) |
SMK | 11,68 (20) | 4,33 (0) | -7,35 (-20) |
ĽS-HZDS | 8,79 (15) | 4,32 (0) | -4,47 (-15) |
SDĽ | 0,12 (0) | 2,41 (0) |
+2,29 (0) |
Wahlbeteiligung 2010: 58,83 Prozent
Newcomer: „Freiheit und Solidarität“ und „Most-HÍD“
Gewinner dieser Wahlen sind zwei neue Parteien. Die erst 2009 gegründete liberale Partei "Freiheit und Solidarität" (SaS), deren Vorsitzender Richard Sulík maßgeblich an der Einführung der Flat-Tax unter Premier Mikuláš Dzurinda beteiligt war, zieht mit 22 Mandaten in den Nationalrat ein. Das Programm der SaS ist EU-kritisch (gewarnt wird an erster Stelle vor der Erweiterung von Macht und Einfluss „europäischer Bürokratie“ durch die Ratifizierung des Reformvertrags), wirtschaftspolitisch neoliberal, aber durchaus offen im Hinblick auf Bürgerrechte. So setzt sich die SaS z.B. für die Eintragung von Lebenspartnerschaften homosexueller Paare ein.
Die dem ungarischen Premier Viktor Orbán nahe stehende SMK (Partei der Ungarischen Koalition), die seit 1998 im Parlament und von 1998 bis 2006 in der Regierungskoalition vertreten war, scheiterte an der Fünfprozenthürde. Der Vorsitzende Pál Csáky gab nach den Wahlen seinen Rücktritt bekannt. Im Juni 2009 hatte der ehemalige Vorsitzende der SMK, Béla Bugár, eine neue Partei der ungarischen Minderheit Most-HÍD (Brücke) gegründet, die den Einzug ins Parlament schaffte. Diese neue, liberale Partei der ungarisch-slowakischen Verständigung und Zusammenarbeit kritisierte den radikal-nationalen Kurs der SMK.
Im Vorfeld der Wahlen: Provokationen der ungarischen Regierung
Der ungarische Premier Viktor Orbán (Fidesz), der im ungarischen Parlament seit April 2010 eine Zweidrittelmehrheit der Mandate inne hat, verankerte unmittelbar nach seinem Wahlsieg sein „Programm der nationalen Einheit“ in der Verfassung. Die Vorlage der entsprechenden Gesetzesentwürfe war im Vorfeld der Parlamentswahlen in der Slowakei eine offensichtliche Provokation, die die slowakisch-ungarischen Beziehungen weiter belastete. Am 26. Mai 2010 verabschiedete das ungarische Parlament die Novelle zur Staatsbürgerschaftsgesetzgebung. Der in den Nachbarstaaten lebenden ungarischen Minderheit wird mit dieser Novelle die Beantragung der ungarischen Staatsbürgerschaft ermöglicht. Das slowakische Parlament reagierte noch am selben Tag: Antragstellern soll die slowakische Staatsbürgerschaft aberkannt werden.
Ein weiteres Gesetz erklärt den 4. Juni in Ungarn zum „Tag der nationalen Einheit“. Dieses Gesetz richtet sich gegen den Friedensvertrag von Trianon, den Ungarn am 4. Juni 1920 unterzeichnete und der die Aufteilung des Königreichs Ungarn bestimmte.
Die Tatsache, dass sich die politische Landschaft der Slowakei trotz dieser Provokationen nicht weiter radikalisierte, ist eine gute Nachricht für Europa: Mit der neuen Partei Most-HÍD ist die ungarische Minderheit durch eine Partei im Parlament vertreten, deren Priorität die slowakisch-ungarische Verständigung ist. Nicht nur die ungarische Minderheit, auch die Mehrheitsbevölkerung hat für diese Partei gestimmt. Im Falle einer Regierungsbeteiligung von Most-HÍD wird es für Viktor Orbán in Zukunft schwierig werden, nicht zu einem konstruktiven Dialog zwischen beiden Staaten beizutragen.
Regierungsbildung
Robert Fico wurde am 14. Juni vom Staatspräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt. Derzeit geht man aber nicht davon aus, dass er eine Regierung bilden kann. Keine der mitte-rechts Parteien will mit Fico regieren. Wichtig zu erwähnen ist in diesem Kontext, dass die Partei Smer-SD kein sozialdemokratisches aber ein populistisches Projekt darstellt. Elemente dieses Projekts sind neben der Deklaration eines „starken Sozialstaats“ ein gefährlicher Nationalismus, der sich auf die Wahrung nationalstaatlicher Interessen und den Widerstand gegen „großungarische Politik“ beruft. Die Tatsache, dass Fico 2006 die SNS und ĽS-HZDS als Regierungspartner wählte, spricht Bände.
Fico bot der KDH (Christlich-Demokratische Union) nach der Wahl eine Koalition an, in der die KDH den Ministerpräsidenten und die Hälfte der Minister stellen könnte. Der Vorsitzende der KDH, der ehemalige Eurokommissar für Erziehung, Bildung, Kultur und Jugend Ján Figeľ, ließ sich nicht auf dieses Angebot ein.
Experten gehen davon aus, dass Fico eine Minderheitsregierung bilden wird, die die Vertrauensfrage nicht besteht. So hätten die drei ehemaligen Regierungsparteien die Möglichkeit, in den Ministerien „aufzuräumen“ und belastende Dokumente verschwinden zu lassen. In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche Korruptionsskandale bekannt, die nur die Spitze des Eisbergs der Machenschaften dieser korrupten Regierungskoalition sind.
Wahrscheinlicher ist ein Regierungsbündnis von vier konservativen und liberalen Parteien unter Iveta Radičová (SDKÚ-DS). Die SDKÚ-DS liegt dabei fast 20 Prozentpunkte hinter der Smer-SD. Eine Koalition der vier Parteien hätte 79 der 150 Mandate inne. Auch wenn dieses Regierungsbündnis inhaltliche Differenzen bewältigen muss, werden sich die Parteien mit großer Wahrscheinlichkeit einig werden. Sie haben ein gemeinsames Ziel vor Augen, das für die demokratische Zukunft des Landes entscheidend ist: Der Politik Ficos ein Ende zu setzen. Auch wenn Iveta Radičová nicht mit der Regierungsbildung beauftrag wurde, begannen die vier Parteien am 14. Juni ihre Koalitionsverhandlungen und unterschrieben am 15. Juni eine gemeinsame Erklärung.
Slowakische Grüne: Ein Unternehmen verkauft ihr Corporate Design
Kandidaten der slowakischen Grünen (Strana zelených) traten aus politisch nicht nachvollziehbaren Gründen auf der Liste der SDĽ an (Partei der Demokratischen Linken). Die Grünen handelten dabei wie ein Unternehmen, das sich für einen schlechten Preis auf dem Markt verkauft. Ernüchtert musste der grüne Wähler feststellen, dass die Grünen nach dem durchaus positiven Ergebnis von über 2 Prozent bei den EP-Wahlen auf der Liste einer Partei kandidierten, deren Ziele und Finanzen nicht transparent sind. Die SDĽ erhielt bei den Parlamentswahlen 2006 0,12 Prozent der Stimmen, bei den EP-Wahlen 0,62 Prozent. Die NGOs, die sich vor den EP-Wahlen mit viel Engagement und Expertise an der Kampagne der slowakischen Grünen beteiligten, waren zu Recht enttäuscht über diese politisch naive und verantwortungslose Entscheidung der Partei. Als die Kandidaten der slowakischen Grünen 1998 als Teil der SDK (Slowakische Demokratische Koalition) kandidierten, war das zwar für die Entwicklung der Partei nicht förderlich, für die demokratische Entwicklung des Landes war diese Entscheidung aber richtig: der Autokrat Vladimír Mečiar wurde 1998 von einem Kabinett unter Mikuláš Dzurinda abgelöst, das die Slowakei auf den Weg in die NATO und EU brachte.
Das Argument der slowakischen Grünen, die Kandidatur auf der Liste der SDĽ habe den Grünen 2010 einen kostenlosen Wahlkampf ermöglicht und ihren Bekanntheitsgrad in den Regionen erhöht, ist Selbstbetrug und nicht haltbar. Die Sponsoren der SDĽ haben u.a. mit Waffen Geschäfte gemacht. Für welche Ziele die SDĽ wirklich steht, ist nur schwer zu durchschauen. Auch die slowakischen Grünen haben darauf keine schlüssige Antwort. Die SDĽ war ursprünglich die Partei Robert Ficos und verschmolz 2005 mit der Smer-SD. Kurz danach wurde das Label der Partei wiederbelebt, heute steht an deren Spitze Marek Blaha. Die Partei präsentiert sich als „Partei neuer Leute, die sozialdemokratische Werte teilen“. Stark bezweifeln muss man allerdings, dass es der SDĽ wirklich um sozialdemokratische Werte geht. Es handelt sich eher um ein neues der vielen slowakischen unternehmerischen Parteiprojekte, die die Gunst der Wähler mit leeren Parolen und Slogans (sozial-gut-menschlich) erkaufen möchten. Die Abmachung mit der SDĽ war, dass den slowakischen Grünen, sollte die SDĽ über 3 Prozent kommen und Parteifinanzierung erhalten, 40 Prozent der Finanzierung zusteht. Der Parteivorsitzende der Grünen, Peter Pilinský, kandidierte auf dem 3. Listenplatz. Außerdem standen den Grünen von insgesamt 150 Plätzen jeder 10. Listenplatz zu. Mit dem Misserfolg endet nach Aussagen der slowakischen Grünen auch das Abkommen mit der SDĽ.
Ihren Kredit haben die slowakischen Grünen durch diese absurde Aktion und haarsträubende Argumentation nicht nur bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren, aber auch bei potenziellen grünen Wählern verloren. In diesen Kreisen sprach man in Bezug auf die Entscheidung der Partei, keine eigene Kandidatur anzustreben und auf der Liste der SDĽ zu kandidieren, von einem „Grünen Harakiri“. Die Frage ist, ob es sich potenziell grüne Politiker und zivilgesellschaftliche Akteure nach diesem Vertrauensverlust trauen bzw. leisten können, die slowakischen Grünen als politisches (und nicht unternehmerisches) Projekt zu unterstützen. Die slowakischen Grünen haben nach einem Gespräch mit der Heinrich-Böll-Stiftung zugesagt, eine ehrliche Analyse des Misserfolgs zu erstellen. Aus dieser Analyse müssen parteipolitische Konsequenzen folgen. Der durch die Partei erstickte Dialog mit der Zivilgesellschaft kann dann eventuell wiederhergestellt und das Vertrauen potenzieller grüner Wähler wiedergewonnen werden.
Eva van de Rakt leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag. Milan Horáček ist ehemaliges MdEP (Bündnis 90/Die Grünen) und leitet seit Juni 2010 das Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung „Grüne Bewegungen in MOE“.
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Slowakische Parlamentswahlen:
Die Slowakei nach den Wahlen: Hoffnung auf Machtwechsel Von Eva van de Rakt und Milan Horáček
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